Der folgende Bericht von Dora Reinhart wurde im Sonntagsblatt „Glaube und Heimat“ bereits schon einmal veröffentlicht.
Am Nachmittag des 15. März wird vom Wasserturm aus, wo sich die Flugwache befindet, beobachtet, wie die Amerikaner im Raum Beltheim - Gödenroth - Laubach vorstoßen.
Die deutschen Einheiten ziehen sich fluchtartig zurück. Mit müden, abgehetzten Gesichtern, teilweise fußkrank, passieren unzählbare Soldaten unser Dorf: Infanterie mit der Panzerfaust auf dem Rücken, Artillerie mit Pferdefuhrwerken und Geschützen, zwischendurch einzelne Geländewagen und schwere Lastautos. Jegliche Ordnung scheint aufgelöst, einige Soldaten erleichtern ihr Gepäck, legen Wolldecken am Straßenrand ab, auch Panzerfäuste bleiben zurück. Andere schleppen mit, was ihnen nicht gehört. So führt ein Soldat eine seidene Steppdecke mit, einer hatte einen Fuchspelz umgelegt, einem Dritten hing ein Henkelkorb aus Großmutters Zeiten am Arm. Gegen Abend ebbt der Strom ab, es kehrt Ruhe im Dorf ein - nun sind wir „Niemandsland“. Zurück bleibt eine kleine Gruppe von 15 Mann, die hier im Oberdorf an der Panzersperre Wache hält, mit dem Befehl, dieselbe zu schließen und zu verteidigen. In der Nacht zum 16. März bleibt es ruhig. Wie in den Nächten zuvor schlafen wir in der Wohnstube auf dem Fußboden. Vater verbringt die Nacht im verdunkelten Stall - eine Kuh kalbt.
Früh im Morgengrauen machen sich die Soldaten an der Sperre zu schaffen, wollen sie schließen. Doch die Männer des Dorfes hindern sie daran, wollen die dem Dorf drohende Gefahr abwenden. Es gibt einen heftigen Disput; der pflichtbewußte Feldwebel - Anführer der Gruppe - droht, er lasse das Dorf verteidigen. Doch P.Jakobs (Drehersch Vidder) holt sein Pferd; und gemeinsam rücken die älteren Männer die schweren Baumstämme zur Seite. Der Feldwebel bleibt mit seinen Soldaten in der Nähe der Sperre weiter auf Posten.
Inzwischen geht die Sonne auf, ein strahlend schöner Frühlingstag kündigt sich an. Im Laufe des Vormittags vernimmt man deutlich aus der Ferne das schwere Rollen der amerikanischen Panzer. Von der Mosel kommend, stehen die Panzerspitzen vor Buch, rücken in Buch ein. Beobachtungsflieger kreisen sehr tief auch immer stärker über Bell.
In kleinen Gruppen stehen die Menschen auf der Straße, beraten: Soll man die weiße Flagge hissen oder nicht? Denn es sind ja noch die 15 Soldaten da, und die Haltung des Feldwebels ist unberechenbar.
Frauen und Kinder suchen mit ihrem Gepäck die Luftschutzräume auf. Mutter und ich sind im Backhaus tätig. In letzter Minute wollten wir noch ein Gebäck Brot für Hermanns Rosa backen.
Einige beherzte Männer beobachten vom Friedhof aus die Bucher Straße und den Waldrand. Die amerikanischen Panzer erscheinen nun diesseits des Bucher Waldes, vier davon nehmen Aufstellung im Gelände, richten die Rohre drohend auf unser Dorf. Inzwischen hat Pfarrer Rolffs mit dem Presbyter Gewehr den Kirchturm erstiegen; die weiße Fahne erscheint über der Kirche. Sofort ordnen sich die vier Panzer wieder auf der Straße ein und rücken langsam auf das Dorf vor. Mutter und ich begeben uns auch in den Luftschutzkeller im Hause Karbach. Dort sind etwa 30 Personen versammelt. Vater beobachtet hinter der Scheune den Anmarsch der Amerikaner.
Die deutschen Soldaten verlassen in schnellem Lauf ihren Posten. Einige suchen in den umliegenden Kellern Schutz. Im Scheunenkeller der Familie Hartmann befinden sich mehrere, auch schon seit der Nacht vorher. Drei Soldaten suchen in Karbachs Keller Schutz. Doch einige Zivilisten, Flüchtlinge von der unteren Mosel, werden den Soldaten gegenüber sehr aggressiv, dulden sie nicht im Schutzraum. So halten sie sich im Vorraum auf, und meine Mutter rät ihnen schließlich, die Waffen abzulegen. Drei Revolver werden im Ascheneimer versteckt.
Lehrer Schmidt aus Köln, der perfekt englisch spricht, entschließt sich, den Amerikanern entgegenzugehen. Mit unserem weißen Klammersäckchen in der Hand erwartet er sie am Ortsrand und übergibt das Dorf, meldet, daß kein Widerstand geleistet wird.
Nun erscheint mein Vater in der Kellertür und ruft uns zu: „Rosa, Dora, kommt schnell heraus!“ Wir verlassen den Keller und gehen gemeinsam zur Hofeinfahrt. Es ist 12 Uhr mittags. Vor unserer Haustür stehend, haben wir das einmalige Erlebnis, den Gegner im Dorf einrücken zu sehen: Auf der Straßenmitte ein Panzer hinter dem anderen, zu beiden Seiten im Gänsemarsch, das Gewehr schußbereit, die Infanterie. Auf gleicher Höhe mit uns hält der erste Panzer an; in deutscher Sprache erschallt der Ruf: „Sind Soldaten da?“ Mein Vater antwortet: „Ja, drei Soldaten dort im Keller!“ Nun gibt es Bewegung. Die Amis stürmen in den Hof an die beiden verrammelten Kellerfenster, knien nieder, zücken ihre Handgranaten. Meine Mutter, die sehr ängstlich war, hat plötzlich den Mut, einen amerikanischen Soldaten am Ärmel zu packen und laut zu rufen: „Nein, nein, Zivil drin, Frauen und Kinder!“ Mein Vater läuft zum Kellereingang und ruft die Soldaten heraus. Zögernd erscheinen diese auf der Kellertreppe und werden gefangen genommen. Das gleiche gilt für die in Vogts Scheunenkeller Versteckten.
Aber wie werden sie gefangen genommen! Sie werden geschlagen und getreten. Die Amis durchsuchen und leeren ihre Taschen und Brotbeutel, ein Kommißbrot landet in der Jauchepfütze. Auch die Uhren der Deutschen nehmen die Amerikaner an sich. Dann werden sie entlang der Kirchhofsmauer aufgestellt, wo sie sehr lange stehen bleiben müssen. Eine weitere Gruppe deutscher Soldaten, die sich an Bourams aufgehalten hatten, wird dort gefangen genommen. Waffen und Munition werden im Hof gesammelt und auf einen Haufen geworfen. Leichtsinnigen Jungen aus der Nachbarschaft gelingt es in einem unbeobachteten Moment einen Granatwerfer an sich zu bringen und im Gelände zu verstecken
Ich wende mich ab, mit Tränen in den Augen, mit den bangen Fragen im Herzen. Wie mag es uns weiterhin ergehen? Was wird aus Deutschland? Obwohl wir diesen Tag als Stunde der Befreiung von einem harten Regime herbeigesehnt hatten, empfinde ich nun ganz stark die Ohnmacht eines besiegten Volkes.
Mutter und ich eilen zum Backhaus, das Brot liegt über seine Zeit im Ofen und ist sehr dunkel gefärbt. Während wir dort hantieren, fallen draußen Schüsse, knattern Maschinengewehre. Vom Beller Marktplatz aus schießen die letzten deutschen Soldaten ins Dorf. Der Vormarsch stockt, die Amerikaner erwidern das Feuer etwa zehn Minuten lang aus ihren Panzern, die in der Dorfmitte in Stellung gegangen sind. Mutter und ich kauern hinter der „Bäid“. Dann rollen die Panzer weiter, nach einer Weile verlassen wir das Backhaus.
Von fast allen Häusern weht die weiße Fahne, meist ein Tisch- oder Bettuch, das im offenen Fenster hängt.
Auf der Straße folgt ein ungeheurer Nachschub an Menschen und Material. Noch stundenlang rollen Panzer, Geschütze, Autos, ...
Um ½ 3 Uhr essen wir zu Mittag, den Reisbrei, den ich schon frühmorgens vorgekocht hatte. Unser Hof und die Scheune wimmeln nur so von amerikanischem Militär. An der Nordseite des Dorfes werden Granatwerfer in Stellung gebracht.
Nun hatten wir einige Tage vorher auf dem Holzplatz hinter der Scheune unser Leinen versteckt. Dort lag das Kühlfaß vom Benzinmotor, ein großer Zinkbehälter. Sechs Säcke , vollgestopft mit Bettwäsche, Handtüchern und Leinenrollen hatten darin Platz. Zwar hatte der Vater das Faß mit Reisigwellen umgeben und abgedeckt; doch nun hatten wir Angst, die amerikanischen Soldaten könnten es entdecken. Gemeinsam gingen wir durch die Scheune. Die Amis, die auf der Tenne lagerten, schauten uns kritisch an; einige folgten uns und beobachteten, wie wir unser Leinen aus dem Versteck hervorholten und wieder ins Haus schafften an seinen Platz in der alten Eichentruhe.
Am Nachmittag mußten unsere Nachbarn Karbach ihr Haus räumen und quartierten sich bei Beckersch Pat, der schräg gegenüber in einem kleinen, alten Häuschen wohnte, ein. Mein Vater half ihnen, Bettzeug, Kleidung und Lebensmittelvorräte auszuräumen und in unser Haus zu transportieren. Gegen Abend bekamen auch wir Einquartierung: 15 Mann! Wir gaben drei Räume ab, zwei Schlafzimmer im oberen Stock und die Wohnstube unten. In der Stube wurden Tisch und Stühle beiseite gerückt und der Fußboden dick mit Stroh ausgelegt. Die Soldaten machten Feuer im Holzkohle-Ofen und füllten ihn bis oben hin. Mein Vater sah das zum Glück und nahm die Hälfte der Glut wieder heraus, sonst wäre das Ofenrohr glühend geworden und leicht ein Brand entstanden. Wir boten ihnen zum Brutzeln den Küchenherd an.
Während die Eltern noch im Stall arbeiteten, saß ich mit Mutter Wagner, unserer Flüchtlingsfrau, am Küchentisch. Ich fühlte mich übermüde, stützte den Kopf in die Hände, denn wir hatten ja in den letzten Nächten kaum geschlafen. Ein Amerikaner tippte mich an, legte einen länglichen Streifen vor mich hin und zeigte auf den Mund. Ich hatte keine Ahnung, was das sei, vermutete ein Arzneimittel und schüttelte mit dem Kopf. Er nahm einen zweiten Streifen aus der Tasche, steckte ihn in den Mund und kaute vergnüglich: Es war der erste Kaugummi, den ich sah und dann auch schmeckte. Ein anderer Soldat legte uns eine Tafel Schokolade auf den Tisch. Welch ein lang entbehrter Genuß.
Am späten Abend traten die Granatwerfer in Aktion. Stundenlang hörten wir die Abschüsse und das Heulen der Granaten, die über uns hinwegflogen. Wo lag ihr Ziel? Wen treffen sie? Die Eltern und ich schliefen auf der „Iewerstuh“, die nicht abschließbar war. Mitten in der Nacht öffnete sich leise die Tür, ein Amerikaner leuchtete uns der Reihe nach mit der Taschenlampe an und zog sich ebenso leise wieder zurück.
Zeitig am nächsten Morgen erfolgte der Weitermarsch der Truppe. Aus einigen Kisten fehlten Dinge; meinen Handarbeitskasten, den ein Hakenkreuz zierte, fand ich im Hof wieder.
Drei Tage lang rollte der Nachschub über die Dorfstraße, dann kehrte wieder Ruhe im Dorf ein. Für uns waren die Schrecken des Krieges vorbei.
Auch für einige Soldaten aus Bell (z.B. Schwiegersohn von Kohrsch Lisa und Fr. Justen) sollte der Krieg vorbei sein - so dachte man. Kohrsch Paula hatte ihren Mann versteckt, in der Scheune, im Hinterzimmer eines Nachbarhauses und zum Schluß, als man das für zu gefährlich hielt, in einem Schieferstollen im Wohnrother Tal. Niemand im Dorf, oft nicht einmal die eigene Familie, wußte davon, weil man Verrat oder unbeabsichtigtes Ausplaudern befürchten mußte. Friedr. Justen war nach einer Verwundung auf Genesungsurlaub zu Hause. Die Soldaten stellten sich den Amerikanern, wurden gefangen genommen und abtransportiert. Friedr. Justen führte die Gefangenschaft sogar bis nach Amerika.