Es gäbe viel zu erzählen von früher. Ich lebe nach über 40-jähriger Abwesenheit wieder im lieben alten Dorf. Was mir auffällt ist, daß so wenig Kinder im Dorf zu sehen sind, Kinder, die lärmend und spielend die Straßen beleben.
Ich möchte erzählen „vun uus Iewerdeerfer Kinner“ aus der Mitte der 20er bis Mitte der 30er Jahre.
Es waren immerhin 12 bis 15 Kinder verschiedener Altersstufen, die dazugehörten. Ein wenig fühle ich mich dazu herausgefordert, weil mir oft von Menschen, die ein Dorf nur von außen kennenlernten oder es nur einseitig erlebten, gesagt wurde, im Dorf seien die Kinder herangewachsen ohne Poesie, mit wenig Gefühl für die Umwelt, mit wenig Distanz zum derben Alltag. Das kann ja sein, aber ich glaube, auch die schöneren Seiten einer Kindheit erlebt zu haben. Davon will ich erzählen. Ob es genauso war? Weiß ich es heute noch, wissen es die anderen? Ich glaube aber zu wissen, wie ich es empfunden habe, wie mich die Kindheit im Dorf geprägt hat.
Unsere Kinderwelt im Dorf war das Spiel. Weder Radiosendungen noch Fernsehen lenkten uns ab. Wir spielten mit Phantasie und Hingabe. Wenn die Abendglocke, damals hieß sie „Betglocke“ läutete, mußten wir heim. Während des Läutens mußten wir ein Gebet sprechen, das uns die Mutter oder die Großmutter gelehrt hatte. Wenn aber „Lehnerts Vidder“, der damals Küster war, uns erlaubte, beim Läuten mitzuhelfen, war das ein Grund, noch etwas länger außer Haus zu bleiben. Dann hängten wir uns im Glockenturm an das Glockenseil und ließen uns von der Gewalt der Glocke hochziehen. Draußen vor der Kirche jaulte Lehnerts Harras, der zusammen mit Karbachs Wolf (beides schäferhundähnliche Hunde) zu unseren Spielgefährten gehörten.
Unsere Spiele waren auch jahreszeitlich bedingt. Wir Mädchen spielten im Frühjahr besonders gern „Hipphäische un Balle“. Die Buben spielten lieber mit Klickern oder liefen auf Stelzen. Versteck- und Räuberspiele wurden meist gemeinsam gemacht. Sie waren um so interessanter, je weiter sie das Dorf einbezogen. Stets wurde vor dem Spiel ausgemacht, wo „it gilt“. Meistens für uns Oberdörfer im ganzen „ Iewerdooref bis an de Boor“. Ob es auch „im Eck un im de Boor rim“ gilt, mußte klar geregelt sein. Es kam vor, daß die Gruppe, die sich verstecken durfte, ein so gutes Versteck fand, daß die Gruppe der Suchenden sie bis zum Abendläuten nicht gefunden hatte. Dann war das Spiel aus, und beide Spielgruppen waren über den Ausgang nicht so recht zufrieden.
Die häufigsten Spielplätze waren der Platz vor der Kirche und manche besonders geeignete Höfe. Der Schulhof war kein Spielplatz. In Scheunen durfte auch nicht gespielt werden, weil wir genagelte Schuhe trugen und verlorene Schuhnägel im Futter eine Gefahr für die Tiere waren. Auch auf dem Friedhof durfte nicht gespielt werden, aber wir bezogen ihn in unseren Lebensraum ein. Dazu gab es hauptsächlich zwei Gründe. Erstens war es die Aufgabe mancher Kinder, die Gräber von Verstorbenen zu gießen, deren Angehörige nicht in Bell wohnten. Sogar Verstorbene aus Hasselbach und Spesenroth wurden früher in Bell beerdigt. Für das Gießen gab es zum Beller Markt eine Belohnung. Ich hatte auch einen solchen Gießauftrag für ein Grab und bekam zum Beller Markt eine Mark von der Hasselbacher Baas. Das war eine große Gabe. So viel gab es manchmal nur noch als „Paddeweck“. Zweitens gab es viele Kindergräber auf dem Friedhof, viel mehr als heute. Oft wirkten diese Gräberchen etwas verlassen, weil die entfernt lebenden Angehörigen sie nicht pflegen konnten. Einiger dieser Kindergräber nahmen wir uns an, jäteten das Unkraut, pflanzten Blümchen darauf nach unserem Ermessen und betrachteten sie als unsere Gärtchen.
Über das Spiel hinaus gab es manches, was uns beschäftigte, was in dem Kinderalltag verarbeitet und gelöst werden mußte.